Die Festung

Leseprobe aus dem 1. Kapitel des noch nicht abgeschlossenen Romans:

[…]
„Es ist nun einmal, wie es ist“, sagte Paula, „nicht mehr zu ändern. Schauen wir mal, was hinter dem Hügel ist.“ Und damit schritt sie zügig weiter. Leo folgte ihr mürrisch und schlechtgelaunt.

Dann sahen sie das baumbestandene Dorf mit der weißen Kirche. Es lag inmitten eines idyllischen Talkessels, in den sie nun, als sie die Hügelkuppe erreicht hatten, hinunter blickten. Die Straße führte hügelab hinein in das Dorf  und hindurch und verlor sich hinter dem Ort im Unbestimmten. Links, auf einem Berg über dem Dorf machte Leo die Ruine einer mittelalterlichen Burg aus.

Vor dem Ort, als sie gerade an dem Ortsschild vorüber gingen, kam ihnen eine Schafherde ohne Hirt entgegen getrottet und blökte sie an. „Hab ich doch gesagt“, sagte Paula zu Leo. „Witzig“, sagte Leo, dem die Aussicht, nun bald das Ziel erreicht zu haben, neuen Mut verlieh.

„Hast du das gesehen?“, fragte Paula.

„Was? Die Schafe?“

Paula drehte um, ging ein paar Schritte bis zum Ortsschild zurück und zeigte darauf.

„Was?“, fragte Leo.

„Das ist ja … Hier steht: ‚In diesem Ort sind Flüchtlinge unerwünscht.‘“

„Na und?“, sagte Leo müde, „wir sind ja keine Flüchtlinge. Komm!“

„Ich weiß nicht“, sagte Paula.

„Es ist, wie es ist“, sagte Leo, „schauen wir mal, wie es im Dorf aussieht. Ist ja nur für eine Nacht.“

Als Paula wieder neben ihm ging, fragte er: „Stand da wirklich ‚In diesem Ort sind Flüchtlinge unerwünscht‘?“

Paula nickte.

„Vielleicht hast du dich verlesen. Vielleicht stand da: ‚In diesem Ort sind Flüchtlinge erwünscht‘.“

Sie sah ihn von der Seite an: „Ich weiß doch, was ich gelesen habe.“

„Du hast ja Recht“, sagte Leo, „zu Hause müsste man etwas dagegen unternehmen. Aber hier? Was wissen wir denn, wie das in der Schweiz läuft?“

Das Dorf, in das sie kamen, ein typisches Graubündner Bergdorf, wie Leo es nannte, war von allen Seiten von bewaldeten Bergen  umgeben. In der Mitte des Dorfes standen eine Kirche, ein Pfarrhaus und, neben dem offenbar einzigen Wirtshaus, eine uralte, mit mächtigen Eisenringen und Stützen versehene Eiche. Alles machte einen soliden und sauberen Eindruck, selbst die Misthaufen vor den Bauernhäusern waren sorgfältig geschichtet und herausgeputzt. An einem Bach, der hastig durch den Ort floss, stand ein Fabriklein, aus dem Hammerschläge und das Kreischen einer Motorsäge zu hören waren. Von der Kirche her wehte Glockengeläute ihnen zu. Der zweistöckige Gasthof „Zum Bären“ war hübsch in einem größeren Garten gelegen, in dem unter Obstbäumen Tische freundlich gedeckt waren. Zur Straße hin blühten Blumen, Rosen vor allem, und eine betagte Frau stand mit umgebundener Lederschürze und einem unförmig großen Sonnenhut auf dem Kopf in den Beeten, knipste hier Verblühtes ab, zog dort aufkommendes Unkraut aus dem Boden und warf alles in eine kleine Feuerschale, aus der anheimelnd Rauch aufstieg.

„Guten Tag“, sagte Leo. Die alte Frau, sie mochte die Achtzig schon überschritten haben, nickte ihm freundlich zu. „Sie haben ganz Recht, gute Frau, sich am Abend ein kleines Feuerchen zu machen.“ Leo bemerkte, dass Paula ihn fragend ansah. „Was redest du da?“, flüsterte sie, „frag nach einem Zimmer für die Nacht!“

„Nicht wahr“, sagte die Alte lächelnd und warf wieder eine Handvoll Abgestorbenes in die leise vor sich hin glimmende Glut. „In unserem Alter tut man gut daran, sich beizeiten auf das Feuer der Hölle vorzubereiten.“
[…]