Theas Augen

Leseprobe:

Offensichtlich war die Frau, die sich so auffallend bemühte, in Matteos Nähe oder doch in seinem Blickfeld zu sitzen, allein hier. Sie verkehrte mit niemandem, lag halbe Tage in einem etwas abseits aufgestellten Liegestuhl im weitläufigen Garten der Klinik und rauchte Zigaretten aus einer langen Spitze. Ihr rotgeschminkter Mund wirkte manchmal, wenn sie, in einem Buch lesend, lächelte, wie eine offene Wunde. Auf eine unbestimmte Art war dieser Mund sinnlich und schön, wie eine Einladung, so wie überhaupt ihre ganze Erscheinung auf eine unbestimmte Art sinnlich und schön war.

An Theas Gesicht aber musste man sich erst gewöhnen: Sie hatte eine Nase, die aussah, als hätte man sie aus dem Gesicht einer anderen ihr ins Gesicht gestülpt. Ihr langes Haar, das sie meist in einem Knoten gebändigt hatte, spielte stark ins Rötliche, war aber ganz sicher gefärbt, denn am Haaransatz schimmerte es grau hervor. Etwas Besonderes aber waren ihre Augen. Sie wirkten, wie soll ich sagen, seltsam verwüstet  und wie höhlenartig – mir fallen keine passenderen Umschreibungen für die Leere ein, aus der Thea die Welt betrachtete. Alles zusammen genommen, glaube ich, konnte man sie, trotz ein paar Unreinheiten ihrer Haut, als Schönheit bezeichnen, obwohl die beste Zeit gewiss bereits hinter ihr lag. Aber wir, Matteo und ich, wussten nicht, ob sie das auch schon wusste. Jedenfalls lag sie im Bewusstsein ihrer Schönheit im Garten und rauchte. Uns ist nicht aufgefallen, dass sie das Spiel des Hinsehen und wieder Wegsehens auch mit anderen Männern unserer Gesellschaft getrieben hätte. Nur mit Matteo. Ich sage das ausdrücklich, um nicht den Eindruck zu erwecken, als hätte ich etwas darauf gegeben, wenn sie auch mich in dieses Spiel einbezogen hätte.

Zum ersten Male haben wir sie so wahrgenommen, wie sie von Matteo wahrgenommen werden wollte, als sie an einem an einem der ersten Tage in der Klinik, es war ein sehr warmer Sonnentag, in einem leichten hellblauen, fast durchsichtigen Strandanzug in den Garten kam und zu ihrem Liegestuhl schritt. In einem sehr leichten Strandanzug. Ihre durchscheinende Figur, die diese Bekleidung vorteilhaft betonte, wirkte auf mich geradezu vollkommen, wenn man einmal ihr Gesicht mit der fremden Nase und den starren Augen nicht mit zu der Figur zählte. Ihr Busen war etwas mehr als mittelgroß und, soweit ich das sehen konnte, vom länglich-runden Typus.

Matteo, der sie für eine Göttin hielt, und ich haben uns einige Male über sie unterhalten. Wir sprachen über ihre Schönheit und ihr Begehren und auch über ihr Alter. Wir schätzten Thea, die sich in der Gesellschaft der anderen Kurgäste ganz gewiss sehr langweilte, auf noch nicht ganz Vierzig, vielleicht auch jünger, vielleicht auch gerade über Dreißig. Nur die merkwürdigen Augen, aus denen ein Laster oder ein Leiden zu sprechen schien, passten, darin waren wir uns schnell einig, nicht zu dieser Einschätzung. Die hatten bereits mehr gesehen, als man in vierzig Jahren sehen kann.
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