Die Schwalben

Leseprobe:

Sie ist es noch und doch ist sie es nicht mehr. Die Krankenschwestern haben ihr eine Rose in die gefalteten Hände gesteckt. Vor unseren Augen wurde sie immer kleiner und unscheinbarer. Grauer und leiser. Jetzt ist sie von uns gegangen. Tom hat nur noch ein paar Stunden mit ihr, dann wird sie abgeholt. Zeit, um sich daran zu gewöhnen. Ihr Körper, durch die Krankheit schwer gezeichnet, verfällt zusehends, von Minute zu Minute, so kommt es Tom vor. Er legt seine Hände auf ihre Hände, streichelt sie, streicht ihr auch durch das Haar. Er meidet alles, was unter der Bettdecke ist, ihre Brust, ihren Bauch, ihre Beine. Er wartet auf etwas, das er nicht benennen kann, auf irgendeine Regung, auf ein geheimes Zeichen, das nur er sehen könnte. Aber sie haben kein Zeichen vereinbart, das sie ihm aus dem Zwischenreich, indem sie sich jetzt vielleicht befindet, schicken könnte. Ich glaube zu sehen, dass Tom erschüttert ist: Sein Augapfel rollt, er atmet schwer. Er ist aufgeregt und fragt sich, warum. Würde er sie zurückrufen, wenn er könnte? Das wäre ein Rückruf ins Leiden, der nur Sinn ergäbe, wenn noch etwas zu klären, Unausgesprochenes zu sagen wäre. Natürlich: Es gibt immer noch etwas zu klären, und das Unausgesprochene wird selbst zwischen Lebenden täglich höher wie ein Gebirge, das unaufhörlich wächst. Er hört, wie jemand auf ihn einredet. Er sieht sich kurz um, aber da ist niemand. Und doch spricht jemand: Schau, sagt der unsichtbare Gast, wie ruhig sie daliegt. Ihr Leiden ist vorbei, sie hat es geschafft. Steh auf, Tom, gehe zum Fenster und öffne es, damit ihre Seele nach Hause fliegen kann! Du siehst mich nicht, denke ich mir, aber du hörst, wenn ich zu dir spreche, nicht wahr? Schreibst das auf den Schmerz, der dich angekommen ist, jetzt, wo sie fast ein wenig lächelnd vor dir liegt, eine Rose in den gefalteten Händen. Gib’s zu, du hast nicht gewusst, nicht geahnt, dass du Stimmen hören würdest in dieser Stunde. Ich bin hier, aber ich bin nicht hier, Tom, um dich zu trösten oder dich zu beruhigen. Ich bin hier, weil sie hier ist. Ich weiß nicht, wie es dir wirklich geht, aber ich weiß, wie es mir geht. Glaube mir, ich fühle mich leer und erschöpft, und ich würde mich um ihretwillen freuen, wenn es dir so wie mir gehen würde. Muskelkater? Hast du Muskelkater, Tom? Mir tut alles weh, jede Faser meines Körpers brennt, als sei ich hundert Kilometer weit gelaufen. Noch stärker jedoch schmerzt meine Seele. Sie weint, meine Seele, sie weint und blutet. Aber doch nicht, weil sie dich verlassen hat, sondern weil sie dich erst jetzt verlassen hat.
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