Leseprobe:
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Schramm hielt den Atem an und beugte sich zum Ziffernblock hinab. Bangen Herzens gab er den Zugangscode ein und – gottlob – die Tür machte ein Klickgeräusch und öffnete sich. Schramm drehte sich noch einmal zu den Läuferinnen um, die sich die Wartezeit damit verkürzten, ihm feindselige Blicke hinterherzuwerfen. Er wollte grinsen, unterließ es aber, als er die erneute Empörung, ja Verachtung in ihren Augen sah, ihr Bleichwerden und Erzittern angesichts der in ihm personifizierten Ungerechtigkeiten, die eine männlich dominierte Welt allen Frauen immer und immer wieder zukommen ließ. Schramm öffnete die Tür. Drinnen war es noch dunkler als im Hotelflur, was ihn wunderte. Er schloss die Tür hinter sich, ging hinein und tastete nach dem Lichtschalter. Plötzlich sagte jemand aus dem Dunkel des Zimmers mit einer angenehm warmen, aber auch durchaus energischen, männlichen Stimme: „Halt! Bitte sei so gut und lass das Licht aus!“
Natürlich war Schramm überrascht. Er wusste weder, ob es wirklich so dunkel in dem Zimmer war, wie es den Anschein hatte (denn draußen war es ja noch fast hell), noch, ob er seinen Ohren trauen konnte. Deswegen fragte er bangen Herzens in das Dunkle hinein: „Wer ist da?“, aber er sah schnell ein, dass das natürlich eine dumme Frage war.
„Ich habe auf dich gewartet“, sagte die Stimme, und weil Schramm dazu vor Verblüffung nichts zu sagen wusste, fuhr sie nach einer kurzen Pause fort: „Du denkst vielleicht, dass du im falschen Zimmer bist? Nein, du bist richtig.“
„Sie haben auf mich gewartet?“, fragte Schramm erschrocken. Aber er erhielt keine Antwort. Stattdessen sagte die Stimme: „Pass auf! Stolpere nicht über meine Tasche, die ich unsinniger Weise mitten im Raum stehen gelassen habe, obwohl ich mir ja schon gedacht habe, dass du noch kommen würdest. Ich werde dich sicher zum Bett dirigieren. Bist du bereit? Gut. Du gehst jetzt erst einmal drei, vier kleine Schritte an der Wand entlang. Hast du? Okay, rechts ist die Tür zum Bad, du kannst das mit der rechten Hand prüfen. Wende dich jetzt nach links. Mache drei kleine Schritte, als ob du trippelst. Hast du? Dann dreh dich langsam um. Und wenn du jetzt vorsichtig zwei, drei winzige Schritte, wirklich winzige Schritte rückwärtsgehst, dann berührst du mit einer Wade die Bettkante. Wunderbar! Setz dich!“
Schramm saß auf seinem Teil des Doppelbetts, zog sich aus und legte sich ins Bett und zog die Decke über sich. Ganz nahe neben sich spürte er den Atem seines Zimmergenossen. Ihm war unbehaglich zumute, und er drehte sich ein paar Mal ratlos hin und her, bis er dann doch auf dem Rücken liegen blieb und in das Dunkle sah.
„Warum sind Sie hier?“, fragte Schramm. Er wagte nicht, seinen Kopf nach rechts zu wenden, wo der Atem des anderen regelmäßig ging.
„Eigentlich solltest du das wissen“, sagte der neben ihm. „Es sei denn, du bist immer noch so verstockt wie früher. Aber lass uns doch, da wir nun schon gemeinsam in einem Bett liegen, ‚du‘ zueinander sagen.“
„Ich heiße Philip“, sagte Schramm. Aus einem plötzlichen Bedürfnis nach Nähe, vielleicht aber auch aus Neugier reichte er seine rechte Hand hinüber. Er hatte vermutet oder befürchtet, dass die Hand des anderen, die er jetzt kurz in seiner hielt, fleischlos, ja knöchern wäre, und er war angenehm überrascht, dass sie warm und angenehm lebendig war.
„So“, sagte der Mann neben ihm im Bett, ohne nun gleichfalls, wie man vermuten könnte, seinen Namen zu nennen. „Aha.“ Dann, nach einer Pause: „Und du willst morgen also Selbstmord begehen?“
„Was?“, entfuhr es Schramm. „Um Gottes willen, nein. Wie kommst du denn auf so etwas?“
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