Die Krähe

Leseprobe:

Im September, kurz bevor der Sommer zu Ende geht, ist alles aus Gold. Die Sonne, die noch im August heiß und brennend am Himmel stand, war mild und versöhnlich geworden. Seit Tagen rollte sie unablässig über den wolkenlosen Himmel und tauchte alles in ihr versöhnliches Licht. Wie ausdauernd doch hier die Farben sind, dachte ich, während ich mit klopfendem Herzen durch die Lüfte schwebte. Nichts ist verblichen, nichts ist ungewiss. Das Violett der Heide dort hinten ist zu Samt geworden, und die Stoppelfelder unter mir zu reinem Gold. Das Kreuz auf dem Kirchturm, über das ich jetzt hinweg flog, blitzte in der Sonne. Mir war, als leuchteten die Rosen so rot wie sonst nirgendwo, als wären die Birkenstämme hier weißer. Die Sonnenblumen standen jetzt, um die schläfrige Zeit des Nachmittags, träumend am Zaune und nickten leicht mit ihrem Kopfe. Und selbst die Äpfel, kleine leuchtende Kugeln mit lustigen roten Backen, lachten mir vom Baume übermütig zu. Bald schon werden sie zu Boden fallen, aber noch halten sie sich mutig fest – wie an einer Mutter, von der sie um nichts in der Welt getrennt werden wollen.

Es war ein schöner Tag im September. Unter mir sah ich das Haus, in dem sie wohnte. Ich drehte, kaum mit den Flügeln schlagend, vor lauter aufgeregter Freude eine große Runde darüber hinweg, ging dann in den Sinkflug über und landete schließlich auf dem Geländer des kleinen Balkons. Vorsichtig lugte ich in die Wohnung. Die Königin der Nacht, die morgens früh aufwacht und deswegen nach dem Mittagessen eine tote Zeit hat, in der sie unfähig ist, etwas anderes zu tun als in ihrem farbbeklecksten Malerkittel mit der Zeitung auf dem Sofa zu liegen, las ein wenig und döste ein wenig. Die Fenster und die Balkontür standen offen. Weil auch die Vorhänge nicht zugezogen waren, schien die Sonne in das Zimmer, in dem sie isst und arbeitet. Schau, jetzt ist ihr die Zeitung auf den Bauch gefallen, halb im Schlafe atmet sie die milde, nach trockenen Tannennadeln riechende Luft, die mit mir von den Feldern kommt und in deren Hauch man schon den Herbst erahnen kann.

Sie machte im Halbschlaf ein verheißungsvolles Gesicht und lächelte, als ob sie schon anstrengungslos mit mir über die abgeernteten Felder und Wiesen hinweg nach Hause flöge. Um Punkt drei Uhr betrat ich wie vereinbart das Zimmer durch die geöffnete Balkontür. Ich schlug mit meinen Flügeln, um mich bemerkbar zu machen, anfangs noch leise und vorsichtig, dann stärker und endlich so laut ich konnte. Als ich sah, dass sie sich regte und ein wenig blinzelte, begann ich, fröhlich zwischen den Wänden hin und her zu fliegen.

[…]