Leseprobe
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Gegen Mitternacht erwachte Robert von einem lauten Geräusch. Es war, als ob alle Dinge im Zimmer sich bewegten, der Wecker und sein Wasserglas auf dem Nachtisch klirrten und die Schlafzimmertür klapperte. Draußen über dem Dach schien etwas sausend durch die Luft zu fahren, zuweilen hörte Robert ein Pfeifen, ein ausgelassenes, ja höhnisches Pfeifen, als jagte dort irgendwo etwas durch die Nacht. Dann wieder kam ein Klagelaut schrill und verzweifelt, und plötzlich wurde all das übertönt von dem gewaltigen Rollen und Krachen eines Donnerschlags. Er sprang aus dem Bett und lief an das Fenster. Er sah zum Himmel. Kein Stern war zu sehen. Die Luft war schwarz und schien voll wilden Getümmels, ein Blitz zuckte kurz auf und zeigte für einen Augenblick in einem metallischen Licht die seltsam veränderte Baumreihe auf dem Nachbargrundstück. Nach wenigen Minuten beruhigte sich das Wetter, Robert stand noch eine Weile und lauschte – aber es herrschte Ruhe.
Robert legte sich wieder ins Bett, konnte aber nicht wieder einschlafen. Er zog sich an, leinte den Hund an und ging hinaus in die Nacht. Der Regen hatte noch einmal zugelegt, und von den glatten nassen Stämmen der Buchen floss das Wasser nur so herunter. Ein paar Krähen krächzten in den Wipfeln der Bäume, und der dreibeinige Köter der Witwe Bolte, der sonst stets hinter dem Bretterzaun kläffte, wenn Robert und Paul vorbeikamen, heulte aus dem Inneren des Hauses. Paul fing an zu winseln – als ob er sich vor etwas fürchtete. Aus dem angsterfüllten Winseln wurde, als sie auf dem kleinen Waldpfad auf das Ehrenmal zugingen, ein Heulen, und als sie zu der Bank kamen, die links des Pfades, genau dem Ehrenmal gegenüber, stand, riss der Hund sich in einer einzigen Kraftanstrengung los und nahm Reißaus.
Robert fluchte. Doch dann erschrak er, denn auf der Bank, da wo die Dunkelheit am dunkelsten zu sein schien, saß jemand. Und als er das Licht seiner Stirnlampe auf die Gestalt richtete, sah er in einem schäbigen Mantel einen krummen alten Mann reglos sitzen, als ob er schlafe. Aus den langen verfilzten und vor Schmutz starrenden ockerfarbenen Haaren tropfte Wasser auf den Boden. Der Kerl sah aus, als wäre er hundert Jahre alt oder älter. Langsam öffnete er, als hätte er sehr lange, sehr tief und sehr fest geschlafen, die Augen, die seltsam blickleer waren. Auf seinen breiten Schultern wackelte ein unförmiger dicker Kopf mit einem erdgelben Gesicht und buschigen Augenbrauen, unter denen ein Paar grünliche Katzenaugen stechend hervorfunkelten. Auf dem Kopf trug der Kerl eine alte Militärmütze, unter der ein dreckiger, blutverschmierter Verband zu sehen war. Sein schiefes Maul sah aus, als hätte er einen Schlaganfall gehabt. Rotz lief ihm aus der Nase, und er hielt die rechte Hand vor die Augen, um sich vor dem grellen Licht der Stirnlampe zu schützen.
Robert war zu Tode erschrocken, als dieser seltsame, unheimliche Mensch im strömenden Regen mutterseelenallein auf der dunklen Bank mitten im Wald saß. Ganz besonders zuwider waren ihm die großen knotigen und behaarten Hände mit den langen, spinnendünnen Fingern, die er aber erst sah, als er sich mit seiner Stirnleuchte vorsichtig der Bank näherte. Am widerlichsten aber waren die rasselnden Geräusche, die der Alte beim Atmen machte. Es klang so, als schnappe er verzweifelt, aber vergeblich nach jedem Atemzug.
Robert erinnerte sich plötzlich an die furchtbaren Geräusche, die sein Opa Dirk auf dem Sterbebett gemacht hatte. Der klang auch so wie ein Schnorchler, und wie widerlich war es ihnen, den vier Kindern, Heini und ihm und Ludwig und Lilo von nebenan, wenn er die blutigen Stücke, die er tief aus seinen Lungen hervor hustete, in ein Taschentuch rotzte oder in die Spuckschale, die immer am Bett stand und in der der ausgehustete Schleim gräulich schwamm.
Als die mitternächtliche Gestalt ihn endlich wahrnahm, sprang sie auf und humpelte mit schmerzverzerrtem Gesicht, mit einer Hand sich den Kopf haltend, zwar gebückt, aber doch mit einer wieselhaften Behändigkeit, die Robert ihr nicht zugetraut hätte, von ihm weg und floh in den Wald hinein.
Robert ging, nein, er lief, und zwar so schnell er konnte auf dem Pfad zurück bis zum Fahrweg, um nach Paul zu suchen, den er jedoch erst fand, als er nach Hause kam. Paul wartete zitternd und fiepend vor der Haustür.
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