„Vom Eise befreit“ ist eines der Projekte, an denen ich zurzeit arbeite. Wenn alles so weiterläuft wie bisher, kann es sein, dass er noch 2024 erscheint.
Bei dieser Leseprobe aus „Vom Eise befreit“ handelt es sich um den vorläufigen und unkorrigierten Anfang des Erstentwurfs des 10. Kapitels:
[…]
Da draußen stand ein Mann auf dem Gehweg vor dem Fenster und starrte, das seltsam bleiche Gesicht an die Fensterscheibe gedrückt, die Hände wie kleine Seitenklappen an den Kopf gelegt, in den Laden. Der Mann trug einen blaugrauen Schlapphut und einen aus der Mode gekommenen hellen Sommermantel, der ein bisschen aussah wie ein Umhang. Unter dem Umhang trug er eine rote Jacke, von der wir allerdings nur den Stehkragen sehen konnten. Der Mann schien uns aufmerksam zu beobachten, so wie man jemanden ansieht, von dem man nicht sicher ist, ob er es ist, den man sucht. Und dann, im nächsten Moment, als wir gerade auf die seltsame Erscheinung aufmerksam wurden und, der eine mehr, der andere weniger, zurückstarrten, verdrehte er die Augen – und war weg. Wie vom Gehweg verschluckt.
»Was war das?«, rief Robert. »Haben Sie das gesehen?«
Ich sprang mit ein paar Sätzen zur Tür und riss sie auf, der Renner, Achtermann und Robert drängten hinterher. Der Mann lag reglos und kerzengerade auf dem Rücken, umflossen von dem Licht, das aus dem »Hölderlin« auf den Gehweg fiel. Er lag da wie ein erschlagenes Insekt. Seine Hände ruhten flach neben seinen Hüften, und seine Schuhspitzen zeigten senkrecht in die Höhe.
»Ach, du liebe Güte! Was ist mit dem?«, fragte Robert. »Ist er tot?«
Und plötzlich kniete der Renner auch schon an seiner Seite. Die Augen des Mannes waren geschlossen, von Blut keine Spur. Unter den Augen hatte er Falten und ziemlich beträchtliche Tränensäcke. Er hatte ein volles, sehr braunes Gesicht. Etwas herabhängende Wangen. Die Haare etwas heller als das Gesicht, die Vorderhaare ratzekahl abgeschnitten, an den Seiten länger, aber völlig anliegend. Hinten ein langer Zopf. Der Mund erschien fast ein wenig zu groß, aber die vollen Lippen waren sehr schön geschwungen. Die Nase sah aus wie ein Habichtschnabel, nur dass die Krümmung sich zur Mitte hin sanft verlor. Wie er so dalag wirkte er sehr zerbrechlich, aber zugleich auch unglaublich stark.
Der Renner knöpfte sein Sakko auf und deckte sie über den Mann. Dann machte sich Teddys Ausbildung bei der Johanniter-Jugend bemerkbar; er sprang nach vorn, um Erste Hilfe zu leisten. »Das Wichtigste bei einem Notfall«, sagte er und es klang, als rufe er etwas auswendig Gelerntes ab, »ist, die Situation so schnell wie möglich und ohne Panik richtig einzuschätzen. Und natürlich den Patienten beruhigen.« Wenn der Mann medizinischen Beistand benötige, werde er sein Bestes tun. Ich fauchte ihn an: »Ja, Mann, mach hin! Bevor der uns hier vor dem Laden stirbt.« Das werde er, fuhr Teddy unbeirrt fort, natürlich, das werde er, er werde sein Bestes tun – aber er müsse allerdings zugeben, dass er über das Bandagieren eines Tischbeins noch nicht hinausgekommen sei.
»Tischbein«, flüsterte da plötzlich der Mann auf dem Gehsteig.
»Was hat er gesagt?«, fragte Robert. »Er hat gerade was gesagt.«
»Sein Puls, Alex«, flüsterte ich dem Renner zu. »Taste nach seinem Puls.«
Der Renner schob seine Fingerspitzen unter den Jackenkragen des Mannes. »Atmet er?«, fragte Teddy.
»Natürlich«, sagte ich. »Kannst du flüstern, wenn du nicht mehr atmest?«
Mit meinen fast 34 Jahren hatte ich bis dahin nur zwei Tote gesehen, eine war meine Großmutter, der andere mein Vater. Die Reglosigkeit des Mannes, der immerhin noch flüstern konnte, wirkte nicht endgültig; der Mann machte eher den Eindruck, als hätte er sich in eine Warteschleife begeben. Er war wohl Mitte vierzig, wenn’s hoch kam fünfzig. Vielleicht Anfang fünfzig.
Inzwischen hatten auch ein paar Leute aus den umliegenden Häusern unseren Auflauf um den am Boden liegenden Mann gesehen und waren neugierig herbeigekommen. Ein paar Autofahrer hielten und stiegen aus. Einer sagte, man müsse Decken holen, eine andere, der Mann müsse ins Warme gebracht werden, ein Dritter, man solle ihn um Gottes Willen bloß nicht bewegen, es könnte sein, dass er sich den Hals gebrochen hat. Ein dicker Mann forderte sehr laut, man müsse einen Rettungswagen rufen. Die Aufregung und das Chaos rundum standen in seltsamem Gegensatz zu der absoluten Stille, die den Renner und diesen Mann zu umgeben schien und die sie von allen anderen trennte. Es schien, betrachtete man nur die beiden, als sei der Rest der Welt in den Hintergrund getreten, bedeutungslos und weit entfernt.
»Hallo«, rief der Renner. »Können Sie mich hören? Hallo?«
»Nicht rütteln«, rief der, der einen gebrochenen Hals befürchtete. »Bloß nicht rütteln.«
»Hallo?«, sagte der Renner noch einmal, und da kam Bewegung in das Gesicht des Mannes. Zuerst runzelte er sanft die Stirn, als störe ihn jemand in einem überaus angenehmen Traum. Dann hoben sich langsam, ganz langsam seine Lider. Die Begegnung mit diesen Augen, so erzählte es der Renner hinterher jedem, war für ihn ein Schock. Sie waren erstaunlich groß und schwarz und funkelnd. »Er lebt!«, rief jemand. Und ein anderer: »Er hat die Augen aufgemacht!«
[…]