Aussichtsloser Fall

Leseprobe:

I In der Casa Bardolino

In dem alten VW-Bus, der sie mit Ach und Krach und vor allem mit Krach und viel Qualm über die Alpen gebracht hatte, kamen die Sanders, Vater und Sohn, in Florenz an. Seit sie den Brenner hinter sich gelassen hatten, saß Julian am Steuer. Sein Vater hatte seinen Strohhut und die Sonnenbrille aufgesetzt und fieberte der Toskana entgegen. Im Radio sang Francesco De Gre­gori: Viva l’Italia. L’Italia liberata!

Der alte Sander kannte den Text auswendig und sang mit, meistens leise, die Worte »Viva l’Italia« jedoch mit donnernder Stimme und, wie es Julian schien, mit feuchten Augen. Julian wusste: Sein Vater war glücklich, wenn er so aussah und seine filterlosen italienischen Zigaretten rauchte, die er an der ersten Autobahnraststätte hinter dem Brenner gekauft hatte. Er hatte seine nackten Füße auf das Armaturenbrett gelegt und sah mit seinem langen weißen Bart, den er sich nach dem Tod seiner Frau hatte wachsen lassen, aus wie einer der letzten Hippies.

»Weißt du, Junge«, sagte er, als sie sich Florenz näherten, »wir waren immer sehr glücklich, deine Mutter und ich, aber in Florenz, ganz zu Anfang … Wir waren fürchterlich ineinander verliebt.«

Julian wusste das, seine Eltern hatten mehr als einmal davon erzählt. Aber das machte gar nichts. Sein Vater war glücklich, und darum ging es. »Wir hatten«, fuhr der Alte fort und strich sich durch seinen Bart, »uns gerade kennengelernt und konnten die Finger nicht voneinander lassen. Sobald ich meinen Koffer in ihrer kleinen Wohnung abgestellt hatte, sind wir losgefah­ren, zuerst an den Lago Maggiore und dann nach Florenz.« Er sah aus dem Seitenfenster und lachte. »In Pisa haben wir vor lauter Verliebtheit den blöden Turm nicht gefunden. Stell dir das mal vor!« Und das Frühstück in der Pension war damals für mitteleuropäische Gewohnheiten ungenießbar, harten Zwieback gab es und eine viel zu süße Marmelade dazu, so süß, dass die beiden, so ging ihre Erzählung, aus der Pension gewankt sind und sich in ihrer Verzweiflung auf dem Platz neben der Pension, auf dem gerade ein kleiner Wochenmarkt stattfand, ein dick mit Spanferkelfleisch belegtes Brötchen gekauft und geradezu verschlungen haben. Julian kannte all diese Geschichten. Er wusste auch, und sein Vater würde es ihm gleich ein weiteres Mal erzählen, dass er, Julian, damals in den Betten der Casa Bardolino gezeugt worden ist. Und diese Pension, die immer noch denselben Namen trug und durch dieselbe Signora geleitet wurde wie vor dreißig Jahren, musste es auch jetzt natürlich sein – darauf hatte Julians Vater bestanden. »Sie liegt sehr ruhig am Rande des Zentrums. Gleich dahinter beginnt der Boboli-Garten. Und die Signora, das wirst du gleich selber sehen«, fuhr er fort, während sie sich durch den florentinischen Feierabendverkehr kämpften, »die Signora ist sehr, nun ja, sagen wir: ori­ginell.« Auch auf die Signora war Julian mehr als ausreichend vorbereitet. Sein Vater hatte den Kontakt zu ihr nie ganz abbrechen lassen, auch wenn er mit Julians Mutter nur das eine einzige Mal hier gewesen ist. Mindestens einmal im Jahr schrieb er ihr eine Karte oder einen Brief, und seit es E-Mails gab und WhatsApp war der Verkehr wieder etwas häufiger geworden. Zu­letzt wurden Bilder hin- und hergeschickt, und ganz besonders häufig, so empfand Julian das zumindest, zeigte sein Vater, der ihn dafür eigens an seinen Computer rief, Bilder von Maria, der Tochter der Signora. »Sieh mal«, hatte sein Vater bei solchen Gelegenheiten gesagt, »ist Maria nicht wunderschön?« Nun ja, Julian fand das Foto ganz passabel, aber wunderschön, mein Gott, was ist schon wunderschön? Vor dem Wunderschönen sinkt man auf die Knie, das hatte sein Vater ihm oft genug gesagt. Zwar hatte er gemeint, dass man nicht vor Göttern und sowas auf die Knie sinken soll, sondern, wenn überhaupt, nur vor dem Schönen in Kunst und Natur, und jetzt ordnete er Maria, die Tochter der Pensionswirtin, wohl in den Bereich der Natur ein.

Als Julian vor der Pension bremste und den Motor abstellte, stand Signora Bardolino bereits in der Tür, schlug die Hände vor der Kittelschürze zusammen und freute sich so enthusiastisch wie es nur waschechten Italienerinnen gegeben ist. Dabei wusste Julian, dass die Signora gar keine waschechte Italienerin war, sondern Mathilde hieß und aus Wanne-Eickel oder Herne oder irgendwo da stammte, wo sie ihren Mann kennengelernt hatte, und ihm nach Italien, in seine Heimat gefolgt war.

»Giorgio«, rief die Signora und klatschte vor Begeisterung in die Hände, »che bello vederti! Benvenuto!«

»Sì«, sagte Julians Vater und schaute noch einmal auf sein Handy, wo er sich einen passenden Satz ins Italienische hatte übersetzen lassen, »sono anche felice di essere di nuovo qui!«

Und dann, nachdem die Signora seinen Vater ausgiebig umarmt und geherzt hatte, wurde Ju­lian in Augenschein genommen. »Ah«, machte die Signora, »è diventato un bel giovanotto, il tuo Giuliano.«

»Ja«, sagte Herr Sander, »aber er ist immer so traurig.«

»Oh«, machte die Signora und drückte Julian an ihre Kittelschürze, »musst nicht traurig sein, kleiner Julian.«

»Ich bin überhaupt nicht traurig«, sagte Julian und versuchte munter auszusehen. »Ich muss einen Parkplatz für den Bus finden. Und ich muss tanken, die Reserve ist angebrochen.«

»Du parkst«, sagte die Signora und schrieb eine Adresse auf einen Zettel, »am besten in der Garage Fosi. Zu Fuß sind es 400 Meter, aber du musst einen kleinen Bogen fahren, am Arno entlang. Es dauert zehn Minuten, und es ist nicht billig, aber, herrje, wir sind in Florenz, nicht wahr? Und du«, sie wandte sich an Julians Vater, »du kommst erst mal rein. Kannst du dich noch an das Konservationszimmer erinnern?«

Der alte Sander warf Julian einen verschmitzten Blick zu, und Julian drehte sich um und ging nach draußen. Konservationszimmer, also wirklich!

Julian startete den VW-Bus, gab die Adresse der Garage in sein Handy ein und fuhr los. Über der Stadt lag ein letzter Glanz. Als er auf den Lungarno Guicciardini einbog, sah er den Ponte Vecchio, an dem die kleinen Geschäfte wie Nester klebten. Der Arno zog sich darunter wie ein schwarzes Band durch die Stadt. Florenz pulsierte, in allen Gassen, auf allen Straßen flanierten Menschen, die von Autos und Motorrollern umkurvt wurden. Braun und grau dehnte sich die Stadt bis zu den Bergen von Fiesole, auf denen schon die Farben der Nacht lagen. Das Navi, das ihm gerade eben noch angezeigt hatte, dass die Garage möglicherweise gleich hinter der nächsten Kreuzung liege (so genau konnte Julian das im Dunkeln nicht erkennen), gab ein Ge­räusch von sich. »Die Route wird neu berechnet«, stand auf dem Bildschirm. Und als die Stimme, die ihn durch die Nacht lotsen sollte, sich wieder meldete, waren aus den 300 Metern bis zum Ziel plötzlich zwei Kilometer geworden. Julian folgte dem niemals endenden Verkehr, und als er merkte, dass er sich immer weiter von der Innenstadt entfernte, versuchte er zu wenden. Aus hupenden Autos, die rücksichtslos an ihm vorbeifuhren, ohne ihm die Gelegen­heit dazu zu geben, zeigte man ihm den ausgestreckten Mittelfinger. Endlich gelang es ihm, wieder auf die andere Straßenseite zu kommen. Sein Navi gab Geräusche von sich, und diese Geräusche, das wusste er, bedeuteten: »Kein GPS-Signal!« oder »Die Route wird neu berech­net«. An einer roten Ampel kurbelte er das Seitenfenster herunter und fragte einen neben ihm stehenden Rollerfahrer auf Englisch nach der nächsten Tankstelle. Der junge Mann auf dem Roller sah ihn verständnislos an, und bis Julian auf Italienisch etwas herumgestottert hatte, sprang die Ampel auf grün, und der Roller fuhr los. Scheiß Florenz, dachte Julian und fuhr wei­ter geradeaus, bis er am rechten Straßenrand stehenbleiben konnte, ohne sofort angehupt und beschimpft zu werden. Er suchte nach einer Tankstelle, und sein Navi führte ihn tatsäch­lich in einen Vorort, wo er den Bus volltanken konnte. Nachdem er bezahlt hatte, gab er erneut die Adresse der Garage ein und fuhr dann zurück in die Stadt. Noch einmal fuhr er durch den dichten Fußgängerverkehr der Via Romana und der Via Maggio an den Arno, und wieder ver­sagte sein Navi. Ein Polizist, den er um Hilfe bat, wedelte, offenbar, um ihm den Weg zu erklä­ren, mit den Armen. Julian bedankte sich und fuhr los, aber an der Stelle, an der das Navi ihn links abbiegen hieß, war keine Straße, und Julian fuhr weiter, die Route wurde neu berechnet, und plötzlich war Julian wieder auf dem Zubringer außerhalb des historischen Zentrums. End­lich, als er (zum wievielten Male?) wieder auf dem Platz an der Porta Romana war, sah er ein Parkplatzschild. Er bremste unsanft ab und rollte auf den langgezogenen Parkplatz. Dann stellte er den Motor ab und ging zu Fuß zur Pension, wo er bereits von seinem Vater und der Signora erwartet wurde. Sie saßen auf einer zum Garten gehenden Glasveranda, wo Maria, die hübsche Tochter der Signora, auf einem Tischchen als Willkommensgruß ein kleines Abendessen vorbereitet hatte. Auf dem Tischchen glühte eine rotbeschirmte Lampe.

»Wo warst du so lange?«, fragte sein Vater.

»Scheiß Verkehr«, sagte Julian.

»Stehst du bei Fosi?«, wollte die Signora wissen. Julian schüttelte den Kopf. »Nein, auf dem Parkplatz an der Porta Romana.«

»Geht auch«, sagte die Signora, »ist aber teurer.«

Julian zuckte mit den Schultern. Wenn ihm jetzt, nach der langen Fahrt nach Florenz und der nächtlichen Suche nach einem Parkplatz in der völlig überfüllten Stadt etwas gleichgültig war, dann war es der Preis fürs Parken. Julian war gereizt und hatte Hunger. Die Signora klatschte in die Hände, und Maria brachte Julian einen üppigen Salat.

Julian langte zu.

»Iss doch noch, kleiner Julian«, forderte ihn die Signora auf, als Julian nach dem Salat das Be­steck beiseitelegte und sich mit der Serviette über den Mund wischte.

»Danke, Signora«, sagte Julian mit einem Blick auf den Teller, die Maria hereintrug, »vielen Dank! Aber ich bin Vegetarier. Der Salat war klasse, vielen Dank.«

»Oh«, machte die Signora erneut, »Giorgio! Das hättest du sagen sollen, dass dein Sohn kein Fleisch isst!«

Der alte Sander zuckte mit den Schultern. »Die Buddhisten …«, fing er an, aber die Signora klatschte in die Hände und rief nach ihrer Tochter. »Maria, è rimasto ancora del pesce?«

»Oh, nein, nein«, rief Julian und hob abwehrend die Hände, »bitte! Auch keinen Fisch.« – »Eier?« – »Ja«, sagte Julian, »Eier esse ich, aber ich bin wirklich satt nach dem Salat. Vielen Dank!«

»Unsinn!« Die Signora wurde noch resoluter, als sie ohnehin schon war. »Maria, prepara una frittata al bel giovane – senza carne e senza pesce!«

Maria sah Julian kurz an und lächelte, Julian nickte, und Maria machte die Andeutung eines Knickses und verschwand wieder in der Küche.

»Allora, Giorgio«, wandte sich die Signora wieder Julians Vater zu. »Wie geht es dir?«

»Naja«, sagte der, »sie fehlt mir. Sie fehlt an allen Ecken.«

»Das glaube ich dir. Eine so schöne und vornehme Frau. Wie sollte sie dir nicht fehlen?«

Julians Vater schluckte, räusperte sich und trank einen Schluck Weißwein.

»So ein verliebtes Paar.« Die Signora sah Julian an. »Jeder von uns hat es sofort gesehen. Große Liebe. Dein Vater ist irgendeiner schrecklichen Frau davongelaufen, als er deine Mutter ken­nengelernt hat – und stracks hierher – und ein Baby gemacht. Hier bei mir!«

Julian lächelte.

»Bardolino«, sagte die Signora nun wieder zu Julians Vater, »hat sich auch davon gemacht. Das weißt du?«

Der Alte nickte. »Du hast geschrieben, dass er gestorben ist.«

»Ein Tunichtgut.« Die Signora bekam schimmernde Augen. »Ein Strolch wie er im Buche steht.«

»Aber geliebt hast du ihn!«, stellte Herr Sander fest.

»Natürlich«, sagte die Signora, »bis sich die Balken bogen. Wie ihr!« Sie lächelte, und Herr San­der lächelte auch.

»Und du, hübscher Julian?«

Julian, der an seine Mutter dachte, zuckte wie ertappt zusammen, als er seinen Namen hörte. »Bitte?«

»Wie ist es bei dir mit der Liebe?«

Julian zuckte mit den Schultern. »Naja«, sagte er.

»So ein hübscher Kerl und so jung und sagt ‚naja‘! Giorgio, was ist da los?«

Herr Sander nahm einen ordentlichen Schluck Weißwein, schlürfte ausgiebig darauf herum und sagte dann: »Erst muss er das Sprechen lernen!«

Die Signora lachte. »Wir schaffen das«, sagte sie und bildete dabei mit ihren beiden Händen eine Raute vor ihrem Bauch. »Du wirst sehen, wir kriegen das hin.«

So ganz Unrecht hatte der alte Sander übrigens nicht. Julian galt immer schon als schwierig – seit dem Tode seiner Mutter aber lagen Schatten von Schwermütigkeit über ihm, deren er sich nicht zu erwehren wusste und wohl auch nicht wollte. Und um mehr als nur »Naja« auf die Frage der Signora, wie er es mit der Liebe halte, zu antworten, so muss man tatsächlich ein­räumen, dass Julian, obwohl schon achtundzwanzig Jahre alt und obwohl seine langen blon­den Haare bereits von der Stirn zurückzuweichen begannen, seit Jahren so etwas, was man landläufig eine »Beziehung« nennt, nicht hatte. Julian aber, anstatt, wie sein Vater sich etwas altmodisch-salopp ausdrückte, »auf die Piste zu gehen«, saß in seinem Zimmer im elterlichen Haus und las. Oder hörte Musik. Oder sah aus dem Fenster. Er sah, um ehrlich zu sein, sehr viel aus dem Fenster und dachte nach, mehr jedenfalls als er las oder Musik hörte. Julian, das muss man so sagen, war traurig. Sein Vater, der das verstand, weil er ja selbst traurig war, hatte einmal zu ihm gesagt: »Mutter hätte nicht gewollt, dass du dich solange grämst.« Und Julian hatte wahrheitsgemäß geantwortet: »Es ist nicht wegen Mutter.« Nein, natürlich nicht, Menschen sterben, manche früher, manche später. Seine Mutter war noch nicht alt gewesen, als sie starb, aber schon lange auch nicht mehr jung. Nein, das war es wirklich nicht.

Andererseits hatte sein Vater auch nicht ganz Unrecht. Julians Traurigkeit, sein Hang zum Grü­beln und zur Schwermut hatten ihre Ursache offenbar in einem Verlust oder sagen wir: in etwas, was fehlt. Was vielleicht nie dagewesen ist, aber so langsam mal da sein könnte: so etwas wie Glück. Als Kind, als junger Mann – stets lag ein Versprechen von Glück über ihm, das sich allerdings ganz und gar nicht einstellen wollte. »Schwerer Mut statt leichter Sinn«, so hatte Julian sein Lebensgefühl einmal beschrieben, als sein Vater, der begann, sich langsam väterliche und ehrliche Sorgen zu machen, einmal mit ihm darüber sprach. Und der alte San­der fragte sich mitunter, ob sie, seine Frau und er, vielleicht etwas falsch gemacht haben. Er stellte auch Julian diese Frage, und Julian hatte ohne langes Nachdenken gesagt: »Ihr habt mich zum Tode durch die Geburt verurteilt.« Mag sein, dass es daran lag, dass er gerade Kafka las und nur ein wenig zitierte – trotzdem hatte dieser Satz den alten Sander sehr erschreckt, ja erschüttert. Er hatte diese wenigen Worte immer wieder hin und her bewegt und war nach ein paar Wochen auf die Idee gekommen, mit Julian nach Italien zu reisen. Es müsste doch, dachte der Alte, mit dem Teufel zugehen, wenn die Luft und das Licht des Südens nicht auch seinen Sohn auf andere Gedanken bringen würde. Es bedurfte zu seiner Überraschung keiner­lei Überzeugungsarbeit, Julian hatte zwar etwas von »Bildungsreise« und »Kavalierstour« ge­murmelt, sich aber ansonsten anstandslos dazu bereit erklärt, seinen Vater zu begleiten. Der alte Sander musste noch nicht einmal das gewichtigste Argument hervorholen, mit dem er seinen Sohn zu überzeugen gedachte, dass er nämlich gerne noch einmal (er war jetzt zu sei­nem eigenen Erstaunen in dem Alter angekommen, in dem man immer häufiger davon spricht, dieses oder jenes »noch einmal« zu tun) nach Italien fahren wollte, um sozusagen den Urlaub, den er hier vor fast dreißig Jahren »verrückt vor Verliebtheit« (wie er gerne sagte) mit Julians Mutter wie im Rausch verlebt hatte, gewissermaßen nachzustellen.

Julian hatte sich also Urlaub genommen (er war in der Verwaltung der Deutschen Bahn be­schäftigt), und dann waren sie über den Brenner zuerst nach Florenz gefahren, natürlich mit dem alten VW-Bus. Dann sollte es nach Rom weitergehen und auf der Rückreise an den Lago Maggiore. So war der Plan.

Und jetzt saß er in der Pension der Signora Bardolino, die in Wahrheit aus dem Ruhrgebiet stammte (und auch ein bisschen so aussah) und sah ihr und seinem Vater beim Weißweintrin­ken zu, als Maria mit dem Omelett kam.

»Buon appetito«, sagte Maria, stellte einen Korb mit Brot und eine Karaffe mit Öl auf den Tisch, lächelte ihn an und machte wieder so einen verhuschten Knicks, der völlig aus der Zeit gefallen war.

»Danke«, sagte Julian und sah sie an. Maria war hübsch, das war eindeutig, das sah sogar Ju­lian. Und sie blieb am Tisch stehen, nachdem sie mit der Signora einen Blick gewechselt hatte. Julian, das können wir uns denken, war von dem Salat nicht wirklich satt geworden. Das Ome­lett duftete, die Signora schenkte die Gläser noch einmal nach, selbst Julian nahm jetzt sein Glas, aus dem er bisher nur höflichkeitshalber genippt hatte, und hielt es wie die anderen beiden hoch, stieß mit ihnen an und sagte wie sie: »Salute!«

Dann nahm er die Gabel und aß.

»Wie schmeckt es dir, mein Junge?«, fragte die Signora.

»Vorzüglich«, sagte Julian. Und das stimmte wirklich. Dann aß er weiter, bis die Schüssel leer war.

»Na siehst du«, sagte sein Vater, »morgen gibt es schönes Wetter.« Das hatte er auch früher immer gesagt, wenn Julian, von Kindesbeinen an ein schlechter Esser, mal ausnahmsweise seinen Teller leer gegessen hatte.

Julian sah ihn an und lächelte. »Ja«, sagte er, »morgen gibt es schönes Wetter! Deswegen sind wir doch hier, nicht wahr?« Der alte Sander lächelte und sagte: »Ja, deswegen sind wir hier. Salute, mein Sohn!« Und sie stießen noch einmal mit ihren Weißweingläsern auf das schöne Wetter an, weswegen sie hier waren.

Da läutete es an der Haustür. Die Signora sah auf ihre Armbanduhr. »Feriengäste,« murmelte sie und »Ah, da sind sie ja endlich«, stand auf und öffnete die Tür mit dem ihr eigenen Sprach­getöse, das offenbar den Neuankömmlingen den Eindruck vermitteln sollte, nunmehr und zwar endgültig in Italien angekommen zu sein. Julian und sein Vater hörten Frauenstimmen, man begrüßte sich, man trug Taschen und Koffer, Schlüssel klapperten – dann war wieder Ruhe. Die Signora kehrte zurück an den Tisch auf die Veranda und sagte: »Engländerinnen. Typische Engländerinnen – wie im Film.« Dann wandte sie sich wieder den beiden Sanders zu, stieß wieder mit ihnen an und fragte so beiläufig, wie sie nur konnte: »Und, Giovanotto, wie gefällt dir meine kleine Maria?«

Julian, der aus der Tatsache, dass die Signora ihn fragend ansah, schloss, dass er gemeint sein müsse, nickte und sagte: »Hübsch.« Sein Vater sah ihn an, die Signora sah ihn an. Sie sahen ihn an, als könne das noch nicht alles gewesen sein, als müsse da noch etwas kommen. Deswegen sagte er: »Sehr hübsch.«

Die beiden Alten wechselten einen bedeutungsvollen Blick, und Julian glaubte, etwas Ver­schwörerhaftes darin zu erkennen. Dann sagte er: »Und das Omelett – ich habe selten ein so gutes Omelett gegessen.«

Die Signora lächelte. »Das Kochen hat sie bei mir gelernt.« Und mit einem Blick auf Julians Vater sagte sie verschmitzt: »Le uova fanno bene ai giovani.« Und das verstand sogar Julian, dem das andeutungsvolle Gerede und Getuschel und die verschwörerischen Blicke der beiden langsam etwas auf die Nerven gingen. Und als sein Vater dann noch den Spruch von der Liebe brachte, die irgendwie durch den Magen geht, reichte es ihm. Er wollte sich gerade aus der immer munterer werdenden Runde verabschieden, als Schritte zuerst auf der Treppe, dann im Flur zu hören waren. Mit einigem Geklapper und Geschurre betraten zwei Frauen den Auf­enthaltsraum und sahen sich nach der Signora um. Die Signora stand auf und ging ihnen ent­gegen. Die ältere der beiden, die aussah wie etwas, was man früher eine alte Jungfer genannt hätte, wandte sich direkt an die Signora: »Bitte entschuldigen Sie, aber weder meine junge Cousine hier noch ich sind in der Lage zu duschen. Es kommt nur kaltes Wasser, und ich denke, nach der langen Fahrt mit der Bahn wäre es sehr wünschenswert, ein wenig unter warmen Wasser stehen zu können.« Sie sagte das auf Englisch, und die Signora antwortete ihr auf Eng­lisch, allerdings in einer ziemlich deutschen Einfärbung: »Oh, das kommt leider immer mal wieder vor. Sie müssen an der Kordel ziehen, an der Kordel neben der Tür. Ja, richtig, innen. Da hängt eine Kordel und daran ziehen Sie vorsichtig, aber mit Kraft. Dann bekommt der Au­tomat Strom, und wenn Sie dann den Thermostat aufdrehen, dann kommt das Wasser – in jeder von Ihnen gewünschten Temperatur.«

»Ah«, machte die Beschwerdeführerin, »an der Kordel ziehen. Hast du eine Kordel gesehen, Helen, Liebes?«

Helen, die offenbar eine überaus wichtige Nachricht auf ihrem Smartphone bekommen hatte, schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich habe auch, um ehrlich zu sein, nicht darauf geachtet. Und selbst wenn ich sie gesehen hätte, hätte ich nicht daran gezogen. Wer weiß, was man damit alles auslöst?«

»Also die Kordel?«, versicherte sich die Ältere noch einmal.

Die Signora nickte. »Ziehen Sie einfach an der Kordel. Fest, aber behutsam – und dann können sie warm duschen.«

»Ich danke Ihnen, Signora«, sagte die Ältere etwas steif und war im Begriff zu gehen, um sich den Staub der Reise vom möglicherweise etwas matronenhaften Körper zu waschen. Aber die Jüngere, eine Hübsche mit vollem dunklen Lockenhaar, lebhaften Augen und einem Mund, der aussah, als sei ihr das alles viel zu viel, die Kordel, Italien und überhaupt die Zumutungen des Lebens, blieb stehen und sagte: »Geh du nur schon hoch, Maggie. Ich habe Hunger.« Und Maggie, die fast schon in der Tür zum Flur stand, drehte sich um und sagte: »Wie du willst, Helen, Liebes. Vielleicht kann es die Signora ermöglichen, uns einen kleinen Imbiss zu rei­chen?« Dabei sah sie durch die große Glastür hinaus auf die Veranda, wo Julian und sein Vater im Licht des rotglühenden Lämpchens vor ihren noch nicht abgeräumten Tellern saßen, was die Signora vorübergehend in einige Verlegenheit brachte. »Nun«, sagte sie, »dies hier ist eine Pension, kein Hotel.«
[…]

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